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Großstädter aufs Land – 40 Jahre Erfahrung

 
Großstädte wachsen, im ländlichen Raum stagniert die Bewohnerzahl oder nimmt ab. Es gab und gibt Versuche dieser Entwicklung gegen zu steuern.

In Homberg (Efze) sollten Pioniere für einen Sommer [1] aus der Großstadt in die Kleinstadt Homberg ziehen und hier als digitale Freischaffende arbeiten. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass einige Gefallen an der neuen Umgebung finden und dauerhaft bleiben. Die Entscheidung wurde versüßt. Zu einem geringen Preis wurden möblierte Wohnungen und Gemeinschaftsräume für die Arbeit zu Verfügung gestellt. Wegen Corona konnte das Projekt nicht durchgeführt werden.

In der benachbarten LEADER-Förderregion "Schwalm-Aue" will man Ideen sammeln, wie das Interesse von Großstädtern am Leben auf dem Lande und an alten Gebäuden geweckt werden kann.
 

Fachwerkbörse und Interessengemeinschaft

Anfang der achtziger Jahre im letzten Jahrhundert gab es schon einmal ein größeres Interesse am Leben auf dem Lande. Es gab damals keine finanzielle Förderung, keine Förderprogramme. Es gab aber eine Initiative, die sehr wirkungsvoll war, wie sich aus der Rückschau zeigt.

In der Bauverwaltung des Schwalm-Eder-Kreises war es Baudirektor Seehausen, der sich überlegte, was gegen den zunehmenden Leerstand an alten Gebäuden getan werden könnte. Im ersten Schritt wurden alte Gebäude erfasst, die zum Verkauf standen, oft regionaltypische Fachwerkhäuser. Diese Sammlung war der Grundstock der Fachwerkbörse. Unterstützt wurde das Projekt 1982 von einem Studenten, Werner Bätzing [2].

Parallel dazu wurde 1981 der Verein "Interessengemeinschaft Fachwerk Nordhessen" IFN gegründet. Ziel des Vereins war es, die Fachwerk-Interessenten fachlich bei dem Erhalt und der häufig ersten vorangehenden Sanierung zu unterstützen, sei es durch fachliche Beratung von außen als auch durch gegenseitige Beratung und Hilfe. Die Mitglieder wurden auch gesellschaftlich aktiv und engagierten sich gegen geplanten Abriss in der Kreisstadt Homberg. Auf der documenta 8 in Kassel sorgten sie 1987 mit einer Aktion für mehr öffentliche Aufmerksamkeit für den Erhalt der Fachwerkhäuser.

Foto: Plakat der Interessengemeinschaft Fachwerk Nordhessen, eingesetzt 1987 bei einer Aktion anlässlich der documenta 8.

Die Neubürger packten es an

Durch die Fachwerkbörse wurden ca. 100 Anwesen verkauft. Die neuen Eigentümer haben die Häuser saniert und in den meisten Fällen auch selbst bewohnt. Die Neubürger im Kreis kamen zu einem großen Teil aus den Ballungsgebieten und suchten bewusst die ländliche Umgebung. Ihnen folgten aus deren Bekanntenkreis weitere nach, auch unabhängig von der Fachwerkbörse.

Anfänglich standen die Baumaßnahmen und der Aufbau der eigenen Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt, zunehmend gingen von den Neubürgern auch Impulse aus, die zu einer kulturellen Bereicherung in der Region führten. Das Kulturnetzwerk Schwalm Eder "Landrosinen [3]" geht zu einem großen Teil auf Zuzüge aus den Städten zurück. Dieses verbreiterte kulturelle Angebot führte in den vergangenen Jahren auch dazu, dass die Region für Großstadtflüchtlinge interessant wurde. Es waren vor allem die Neubürger, die sich für den Erhalt der Fachwerkhäuser einsetzten, wie zum Beispiel mit der Aktion auf der documenta 1987.


Foto: Titelseite der Dokumentation des Widerstands gegen den Abriss der Fachwerkhäuser in der Homberger Altstadt

Situation Nordhessen

Nordhessen wurde in der damaligen Zeit "Hessisch Sibirien" genannt. Die politischen Verhältnisse wurden als vorherrschende "Beton-SPD" bezeichnet. Der Schwalm-Eder-Kreis gehörte nicht mehr zum Zonenrand, erhielt auch keine Zonenrand-Förderung.

Diese abgelegene Randlage mit stabilen politischer SPD-Mehrheit schien geeignet, hier industrielle Großprojekt zu realisieren. Heftig umkämpft waren die Planungen für ein Atomkraftwerk, eine Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe und eine Großraffinerie bei Borken.

Die heftigen politischen Proteste weckten die Bevölkerung auf.
Verstärkt wurden Alternativen zur bisherigen Entwicklung gesucht und diskutiert. Kassel wurde mit der neu gegründeten Gesamthochschule ein Impulsgeber.

In der Jugendwerkstatt Felsberg sprach der Atomkritiker und Zukunftsforscher Robert Jungk [4].
In Borken hatte der Verein für Bioenergie den "Solar-Papst" Hermann Scheer [5] eingeladen.

Der Lehmbau wurde wieder entdeckt und weiter entwickelt. In Wabern entstand eine Moschee mit zwei Kuppeln aus Lehmsteinen.

In Kassel wurde die Zellulosedämmung weiter entwickelt und auf den deutschen Markt gebracht.
  

Impulsgeber für die Region

Es wäre ein interessantes Projekt, die Auswirkungen der "Großstadtflüchtlinge" auf die regionale Entwicklung genauer zu untersuchen. Es könnte sich zeigen, dass sie ein wesentlicher Garant für die Regionalentwicklung waren und noch sind.
Als wir mit der Sanierung unseres Pfarrhofes anfingen, kam der Bürgermeister vorbei und erkundigte sich nach dem Vorhaben. "Einheimische hätten das nie gemacht.", war sein Fazit.
 

NACHTRAG.
Von Werner Bätzing erschien im Februar 2020 das Buch: Das Landleben [6], Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform.

Verlagsmitteilung: In einer Zeit zunehmender Verstädterung brauchen wir eine neue Sicht auf das Landleben. Es ist keineswegs Ausdruck überholter Verhältnisse, es ist vielmehr Grundlage für die Dynamik und Spezialisierung in den Städten und Zentren. Der bekannte Geograph und Alpenforscher Werner Bätzing hält das Land mit seinen Traditionen und Kulturlandschaften für unverzichtbar. Daher mündet sein so fundiertes wie nachdenkliches Buch in Leitideen für die Zukunft des Landlebens.